Philosophie

Was heißt es, im 21. Jahrhundert Habitat zum Thema der eigenen akademischen, praktischen, künstlerischen, freiwilligen, Arbeit zu machen? In einem Jahrhundert, welches das so modische wie vage Adjektiv „urban“ verdient hat? Und, zählt „Habitat“ überhaupt noch in einer von verbreiteter gewählter oder gezwungener Heimatlosigkeit geprägten Welt? Dem Habitat Forum Berlin stellen sich diese Fragen zwangsläufig, verkörperte es bei seiner Gründung eine gewisse Haltung zum Thema, die angesichts fortwährender Entwicklungen stets zu überprüfen ist.

Aber sie stellen sich mit derselben Dringlichkeit all denjenigen, die den Stand globalen Wohnens mit Sorge und Wut betrachten.

Die Fragen indessen, die sich heutige „Habitat-Experten“ alltäglich stellen, sind eher interventiver und technischer Natur: Wie lassen sich die Abfälle zunehmend konsumfreudiger urbaner Mittelschichten in Schwellenländern entsorgen? …Massen von städtischen Armen unterbringen? …und von Naturkatastrophen zerstörte Dörfer so schnell wie möglich (und nebenbei auch partizipativ, bitte schön!) wieder herstellen? Den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhebend, haben sie eine Anzahl von Themen ausdifferenziert – housing (the poor), Infrastruktur, Management, ökologisches Bauen, Nachhaltigkeit… –, spezifische Arbeitsfelder geschaffen und dafür verantwortliche Institutionen installiert. Angesichts der Ausmaße der Probleme vor allem in Megacities und in sich durch Massenanbau und Industrialisierung verändernden ländlichen Gebieten könnte dieser Pragmatismus, dieses Bestreben nach effizienten Lösungen, als verständlich erscheinen. Was de facto produziert wird sind jedoch schnelle Lösungen zu niedrigsten Kosten (von Zeit, Raum, Geld) und theoretisch wiederholbare „Best Practices“ für Jahresberichte und Vorträge. In anderen Worten ist das, was Henri Lefebvre 1966 als ein Fehldenken der westeuropäischen Planung bezeichnete – die Reduzierung einer eigentlich weitergreifenden Funktion menschlichen Lebens auf das „Behausen“, oder das „Besitzen“ eines „eigenen“ Raums für die Organisation privaten Lebens –, heute im globalen Maßstab festzustellen. Der historisch gewachsene und wachsende anthropologische Umstand „Wohnen“ jedenfalls erstarrt; es wird am „Habitat“ gebastelt.

Globale Homogenität anstatt Differenz

Worauf beruht dieses Fehldenken? Ist ein aus dem 19. Jahrhundert „recycelter“ Fortschrittsglaube à la Corbusier, den die Moderne, wenn auch in abgewandter Form, vertrat, dafür verantwortlich? Nein. Diesen haben historische Ereignisse und intellektuelle Bewegungen, nicht zuletzt die architekturinterne Diskussion der 70er, im Laufe des 20. Jahrhunderts dekonstruiert. Wissenschaftlichem Relativismus und poststrukturalistischer Philosophie stand dahingehend die postkoloniale Theorie mit ihrer Kritik an der Auferlegung westlichen Gedankenguts in ehemaligen kolonialen Ländern zur Seite. Das Fehldenken beruht vielmehr auf das tief verwurzelte und schwer zu verabschiedende Postulat, nach dem „Fortschritt“ und „Entwicklung“ das Endziel menschlichen Handelns seien. Zwar wird mit Blick auf weltweite Umstrukturierungsphänomene allgemein erkannt, dass Fortschritt ungleiche Geschwindigkeiten hat. Allerdings hat diese Erkenntnis etwas Klagendes inne, wie ihr Einsatz in Diskussionen über eine Verantwortlichkeit der „globalen Gemeinschaft“ gegenüber den „Entwicklungsländern“ zeigt. Was ist eigentlich so störend an den ungleichen Geschwindigkeiten des Fortschritts?
Ungleich schnellen Fortschritt zu bedauern bedeutet nichts Anderes, als das Ideal eines gleich entwickelten und synchron weiterlaufenden Fortschritts zu begehren. Einem solchen Denken sind zwei Probleme immanent: Zum Einen wird die Entwicklung der entwickelten Länder als Fortschrittsmaßstab und -Parameter unhinterfragt verewigt. Die bilateralen Verträge und internationalen Abkommen der Entwicklungszusammenarbeit mit ihren fragwürdigen Zielen, Erfolgen und Begünstigten beruhen hierauf. Zum Anderen ist die darin enthaltene Annahme, dass sich die Menschheit gleichen Schrittes in eine Richtung bewegen würde, wären nur die bisher bestehenden Ungleichheiten beseitigt, anthropologisch fraglich und politisch naiv. Sie verkennt die Bedeutung kultureller Werte und ortspezifischer Gegebenheiten für gesellschaftliche Prozesse und gleichzeitig auch die Relation zwischen Fortschritt der einen und Unterentwicklung der anderen Seite.
So ergibt sich der Paradox, dass „Differenz“ – essentiell gegeben zwischen und manchmal sogar innerhalb Individuen, Lebensstile, Denkrichtungen und, ja, auch Entwicklungsstände und Fortschrittsgeschwindigkeiten – hoch zelebriert, aber globale Homogenität realisiert wird.

Die Fortschritt-Falle

Die Schwierigkeit ist verständlich. Erstens wird Fortschritt, in einem Teil der Welt, seit Generationen als Grundvoraussetzung menschlichen Daseins angesehen: Fortschritt ist „nötig“. Der Beitrag postkolonialer Studien hinsichtlich eines Umdenkens von globalen Hierarchien und einer stärkeren Berücksichtigung kulturraumspezifischer Gegebenheiten in westlicher Wissenschaft und Praxis ist indes leichter einzuschätzen, als hinsichtlich einer eigenen Definition des „Guten“, Nötigen und Erstrebenswerten in den Exkolonialländern selbst. Also wurzelt das Fehldenken in der immer noch dominanten Rolle des Westens in globalen Repräsentationen.
Zweitens ist der Anspruch, übergreifend und dennoch differenzierend über jenes Dasein zu reflektieren, tatsächlich überfordernd. Als provisorische Rettung gilt das „Transitorische“. Zwar stimmt es, dass sich in einer räumlich, und nicht mehr ausschließlich zeitlich, aufgefassten Welt keine Dimensionen sondern Richtungen, keine Größen sondern Kräfte bzw. Kraftfelder, keine festen Räume sondern Vektoren noch denken lassen. Das Betonen der Koexistenz der verschiedenen Geschwindigkeiten, ungleichen Entwicklungen und Entwicklungsstände im Transitorischen löst allerdings nicht, sondern verschiebt die notwendige wenn auch schwierige Auseinandersetzung mit Differenz. Auf philosophischer Ebene ergibt sich daraus eine „Homogenisierung“ von Zeit und Raum: Ihre Untrennbarkeit wurde zwar zu Recht begriffen, aber ersten entsprechenden Konzeptualisierungen folgten keine konsequent durchdachten Analysen. Auf der praktischen untermauert diese konzeptuelle Verwischung das Vertrauen darauf, dass alles wieder gut wird, es ist ja lediglich eine Transitionsphase (und für die unangenehmen Momente, wenn der Optimismus bröckelt, gibt es immerhin Beruhigungsmittel: gut vertretbare, und rentable, technische Lösungen – her damit….). Freilich bleibt der Begriff „Fortschritt“ samt der Geschäfte, die in seinem Namen abgeschlossen werden, ungerührt.

Das „Wesen“ des Wohnens

Das beschriebene Problem mündet in ein Denken nach Funktionen – die zwangsläufig ablenkend wirken – anstatt nach dem Wesen der Dinge, die wichtige Impulse für die Auseinandersetzung mit Differenz geben könnten. Damit ist es ein konzeptuelles, und insofern auch ein sprachliches Problem.
Auf dem Weg zu dem Wesen der Dinge beschäftigen wir uns hier mit dem Wesen des Wohnens. Wir suchen in der Sprache, und folgen Martin Heidegger. 1) Wohnen ist Bauen, denn das Bauen nur vermittels einer ideellen Vorstellung dessen, was Wohnen bedeutet, geschehen kann. Die übliche Sichtweise, die zwischen einem Bauen als Lieferung der „Hardware“ und einem Wohnen als das Füllen dieser „Hardware“ trennen würde, ist hier umgekehrt bzw. infolge einer etymologischen Suche korrigiert. Denn genauso viel wie „errichten“ bedeutet bauenauf der Erde sein, sich aufhalten, bleiben, hegen und pflegen. 2) wohnen addiert zur Bedeutung von bleiben und sich aufhalten eine Qualität dieses „auf Erde Seins“ des Menschen, und zwar die Zufriedenheit, das Bewahrt- oder Geschont-Sein. 3) Bauten, bevor sie Funktionen erfüllen, sind als Dinge versammelnde Wesen, sie erlauben das Zustandekommen von Verhältnissen zwischen Menschen und zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Wesentlich gedacht weisen Bauten ihre eigentliche Bedeutung als Bewahrer und Schoner aus, als das, was das Wohnen ermöglicht.
Vielmehr als Technik ist Bauen seinem Wesen nach das Ermöglichen des Aufenthalts des Menschen auf Erde inZufriedenheit.

Menschenwürdiges Wohnen fördern…

Insofern, als dass es nach einer Maß-Nahme geschieht und für die Architektonik, für das Baugefüge des Wohnens zuvermessen oder „das Maß zu nehmen“ vermag, lässt sich Bauen als Dichten denken. Viel eher als Abmessen mit fertigen Maßstäben und Verfertigen von Plänen heißt Bauen Wohnenlassen, oder Prozesse der Aneignung und Formgebung zuzulassen. Wer bestimmt dieses Maß? Architekten? Stadtplaner? Experten der Entwicklungszusammenarbeit, Soziologen, Anthropologen? Nicht primär: In einer Differenz zulassen wollenden „kosmopolitischen“ Welt kommt ihnen eine andere Aufgabe zu. Sie sollten beobachten, sammeln, analysieren, erzählen, wie wir leben, wie wir wohnen oder auf der Erde sind, ohne anhand von Konstanten und Variabeln normierende und zwangsläufig simplifizierende Erklärungen liefern zu wollen.
Habitat zum Thema der eigenen Arbeit zu machen muss im 21. Jahrhundert heissen, Habitat zum Thema zu machen. Dabei steht es nicht nur westlichen Studierenden, Politikern und schließlich der gesamten Öffentlichkeit zu, die Wohnsituation von Menschen in Megacities des „Globalen Südens“ kennenzulernen: Warum sollten diese nicht über die Wohnsituation verschiedener Menschen im Westen etwas wissen und dadurch lernen wollen? Ob das eigene „Recht auf die Stadt“ zu fordern; ob städtische Entscheidungsprozesse demokratisch zu gestalten; ob das Wohnen zu vermessen; ob Lebensentwürfe Anderer nachzuahmen oder doch abzulehnen: In allen Fragestellungen über das Wohnen (wie über das Leben) soll es uns darum gehen, eine Intuition, eine Ahnung der Möglichkeit verschiedener aber frei zu wählender Alternativen zu vermitteln. Wenn wir die Stadt als Ort verstehen, in dem Differenzen einander bekannt werden – als Ort der Austragung, Aushandlung und des Vergleichs von Differenzen –, so kann das „Urbane“ am begonnenen Jahrhundert bedeuten, dass Alternativen auch in urbanisierenden Regionen bekannt und aufgrund informierter Debatten aktiv diskutiert, verglichen, gewählt (oder verworfen) werden.
Die Beschäftigung mit Habitat – neudefiniert als einer Praxis, die ein freiheitliches und informiertes Bauen und Wohnen ermöglicht – ist alles Andere als hinfällig: Sie erlaubt, die Bedingungen des wie auch immer wandelnden „auf Erde Seins“ des Menschen zu ergründen. Für das Habitat Forum Berlin erfordert dies ein tiefes Verständnis von städtischen und allgemein Urbanisierungsprozessen in deren Verschiebungen, Transpositionen aber auch Brüchen, die dominante Entwicklungsmodelle und Vorgehen in Frage stellen.

Menschenwürdig ist Wohnen schließlich dann, wenn es im Respekt der Wohnenden geschieht, wenn sie zum Frieden gebracht, geschont und bewahrt sind.

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